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Sonntag, 13. Januar 2013

Leseprobe: Wohnwagengeschichten


 Ein altes, klappriges Wohnmobil mit
klapprig-mobilem Bewohner -:
Nichts Besonderes also;
wir Deutschen, sagt man ja,
reisen gern und viel.
Ob wir bisweilen wohl besser zu Hause blieben?

Darüber wird in diesem Buch sinniert.
Und dann noch ein wenig über Gott und die Welt –
soweit man sie von der Fahrbahn aus wahrnimmt.
A propos wahr:
Das sind die Geschichten natürlich.
Völlig Alltägliches wird zum Ereignis.
Auch noch ganz klägliches dient uns als Gleichnis.

Lesen Sie bitte – mit Vergnügen!



Der Autor ist mit seinem Wohnwagen gerade in Russland angekommen und beschreibt das folgende Geschehnis.

Aus dem Kapitel

Enttäuschung

In einem der ungezählten Straßendörfchen, durch die ich fahre, winkt jemand und möchte mitgenommen werden. Aber ich getraue mich nicht recht; bin erst so kurz im Land. Werde ich mich genügend verständigen können? Und außerdem liegt der Beifahrersitz voller Krimskrams: Wollpullover, Straßenkarten, Straßenatlas, Kekse...
Aber nachdem ich vorbei gefahren bin, schäme ich mich, beschließe: Der Nächste wird mitgenommen und deponiere vorsorglich den gesamten Krimskrams auf den Fußboden, zwischen die Sitze, direkt neben den Ganghebel. (In diesem Wagen gibt es keinen Mitteltunnel; Motor vorn und Frontantrieb. Der Boden zwischen Fahrer- und Beifahrersitz ist freie Fläche.)
„Der Nächste“ lässt nicht lange auf sich warten. Ein klein-lumpig Weiblein mit dreckigen, geflicktem Jutesack steht winkend im staubigen Gras. Ich halte. Sie ist so kleinwüchsig wie ein zehnjähriges Kind, schaut ein bisschen kretinistisch drein und stinkt ungeheuer nach Sonstigem und nach Schnaps. Die Sitze oder auch Trittstufen dieses Wagens zu erklimmen, wäre für sie unmöglich. Ich muss sie schon heraufheben. Und dann sitzt sie da – starr vor Staunen, vielleicht weil in diesem Wagen die Staubschichten noch nicht so dick und die Rostschichten noch nicht so dünn sind wie in hiesiegen Fahrzeugen? Oder weil sie hoch über Grund schwebt? Oder weil der sehr laute Motor für Ihre Begriffe so leise brummt? Ich weiß es nicht. Sie sitzt starr und schaut mal nach draußen, mal zu mir und hält ihr Säcklein mit beiden dicken Fäustchen fest.
Wir fahren. Sie schaut fasziniert nach draußen.
Kommt, Mütterchen, erzähl mir ein bisschen was!
Oh, oh, oh, Ihr sprecht russisch?! Ja, dann ist es ja gut! Dann ist ja alles gut!
Ja, ein ganz klein Bisschen sprech ich. Jetzt sag mir mal zuerst, wohin ihr möchtet.
Nach Pskow.
Ach du liebe Zeit, bis nach Pskow! Das ist aber noch ein gutes Stück hin!
Ja, ich weiß. Das macht nichts. Ich habs nicht eilig.
Dann ist es gut. – Es gibt ja so ein schönes russisches Sprichwort, so etwa: Eile mit Weile; wer langsam fährt, kommt schneller an.
Ach, achachach, Ihr kennt sogar Sprichwörter! Das ist aber gut, das ist wirklich gut. Kennt ihr denn auch das Lied dazu?
Das Lied – wozu? Zu dem Sprichwort?
Ja! Natürlich! Da gibt´s doch ein ganzes Lied zu!
Sie taut auf.

Bitte, zeigen Sie mir mal einen echten Russen, der erst stehen und gehen musste und dann fahren darf -: spätestens nach ein, zwei Werst Wegstrecke wird er zu singen beginnen. Tut er´s nicht, ist er kein Russe. Sie, meine kleine, dickzüngige Kretina tat es. Sie war echt.
Doch ehebevor sie ihre wundersame schnarrende, knarrende, quäkelnde, mäkelnde, greinende, weinende Stimme erhob, setzte sie den Beutel ab: schicklich vor ihre Füße. Aber dadurch wurde ihr der Raum vor den Füßen zu eng, und mithin vollzog sie eine Ganzkörperwendung nach links (also Front zu mir), setzte dabei den linken Fuß auf meinen Pullover (der hinterm Ganghebel lag), den rechten Fuß auf Atlas, Karten und Keks (vor dem Ganghebel) – und dann sang sie und stampfte mit ihren kurzen, dicken, durchgewetzten, durchgeschwitzten, dreckigen Schuhchen auf all meinem Krimskrams den Takt dazu:

Eile mit Weile!
Kommst schon zu deinem Teile!
Wer langsam fährt,
kommt schneller an!
Noch gibt’s kein Pferd,
das fliegen kann!
Lass dich nicht jagen!
Schon Pferdchen und Wagen,
schon Riemen und Seile!
Eile mit Weile!

Undsoweiterundsoweiterundsoweiter ... Ein oder zwei Dutzend Strophen; und die letzten vier Zeilen immer als Refrain.
Hinreißend!
Dann kuckte sie, ob ich zufrieden sei; anscheinend sah ich nicht so aus.
Soll ich lieber was singen, was Ihr kennt?
Oooch, das ist einerlei. Singt nur irgendwas. Ich hör´s gern.
Ich wird was singen, was ihr bestimmt kennt. Und dann singt Ihr mit, ja?
Na, mal sehn.

Schwarze Augen.
Zwölf Räuber.
Kalinka.
Moskauer Abende.

Es war umwerfend. Jetzt stampfte sie den Takt nicht nur mit den Füßen, jetzt klatschte sie ihn erst mit den eigenen Händen, dann mit ein oder zwei Händen auf meinen blanken Unterarm, der das Lenkrad hielt, wodurch sie gewährleistete, dass wir einige vertrackte Schlaglöcher in letzter Sekunde doch gerade noch voll aus- und durchkosteten.
Und dann...
Wurde sie plötzlich ganz ernst, wendete das schöne Antlitz der Ferne zu, horchte auf die innere Einstimmung und beginn tief und feierlich:
Roschschiija, Roschschiija, ach rodina maja –
was aber an ihrer dicken Zunge, ihren wulstigen Lippen und ihrem einzahnigen Oberkiefer lag und auf deutsch hieß:
Russland, Russland, ach meine Heimat!

Sie war enttäuscht, dass ich das Lied nicht kannte und nicht mitsang:
Seid Ihr heißer? Oder was ist?
Nein, Muttchen, es greift mir so ans Herz.
Dann ist gut. Aber dann werde ich jetzt eine Pause machen.
Ja, das tut. Und erzählt mir stattdessen irgendwas.

Und dann erzählte sie und erzählte und erzählte...
Dass ihre Schwiegertochter so garstig zu ihr sei. Dass sie sie beim Einkauf um fünf Rubel betrogen habe. Dass der Rubel zwar nichts Wert sei, aber immerhin... Dass ihr Vetter in Pskow vor Weihnachten ein Bein gebrochen habe. Dass heuer die Pferdebohnen so viele Blattläuse und die Stachelbeeren so dicken Mehltau hätten wie nie zuvor. Und dass sie selber auch schon mal krank gewesen sei – vor zwanzig Jahren ungefähr; da habe sie sogar mit Fieber im Bett gelegen...

Da vorne kommt Pskow, Muttchen; Ihr seid gleich am Ziel.
Das schadet nichts, Onkelchen; ich habs nicht so eilig. Ich hab auch in Gdow noch Verwandte. Dann lasst mich ruhig noch bei Euch bleiben, bis Ihr in Gdow seid.
Das geht nicht, mein Töchterchen, denn ich fahre nicht nach Gdow. Ich biege vorher links ab.
Ach, das ist aber sehr, sehr schade. Es ist doch so hübsch, in diesem, in diesem Autobus zu fahren.
Gewiss. Aber das hilft nun nichts. Wir müssen uns trennen.
Was müssen wir?
Wir müssen uns trennen, Muttchen, müssen Lebewohl sagen. Und ich danke Euch für Eure wundernette Unterhaltung! Sie hat mir die Zeit auf das angenehmste dahingehen lassen.
Was bin ich denn schuldig, Onkelchen?
Lasst gut sein, Seelchen! Ist schon gut!
Nein, nein! Hier! Das müsst ihr von mir annehmen!
Ach, Töchterchen, lasst doch! – So, und nun kommt, ich helf euch aussteigen.
Gott behüte Euch! Und herzlichen Dank!
Ich danke Euch auch! Lebt wohl! Alles Gute!

Dann fahre ich ein paar Kilometer weiter, halte erneut, schüttele meinen Pullover aus, klopfe den Dreck von den Karten, sammele die Kekskrümel auf ... Und fahre wieder.

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